Zeitstandverhalten unter Innendruck, Lebensdaueranalyse, Zeitstandfestigkeit, Zeitstandinnendruckfestigkeit

Eine der wichtigsten Eigenschaften von Kunststoffrohren ist das Zeitstandverhalten unter Innendruck, kurz auch Zeitstand genannt. Es handelt sich dabei um die realistische Lebensdaueranalyse eines Kunststoffrohres, das unter Innendruck steht. Dabei spielen die Temperatur und das Medium eine wesentliche Rolle.

Der Innendruck im Rohr erzeugt einen mehrachsigen Spannungszustand in der Rohrwandung.
Die Lebensdaueranalyse ist für folgende Werkstoffe geeignet (siehe Tabelle 1).

Thermoplastische Rohre wie z. B. Rohre aus PE, PP, PVC-U, PB, PA, PVDF, etc.
Thermoelastische Rohre * wie z. B. Rohre aus PE-X (weitmaschig vernetztes Polyethylen)
→ wird hier nach Norm wie ein thermoplastisches Rohr behandelt
Mehrschichtverbund-Rohre (Multilayer pipes) wie z. B. Rohre aus mehreren Schichten (Kunststoff/Aluminium/Kunststoff). Die Anforderungen der ISO 17456 sind entsprechend zu berücksichtigen
GFK-Rohre und faserverstärkte thermoplastische Rohre wie z. B. Rohre aus glasfaserverstärkten Kunststoffen (GFK), GF-UP, GF-EP sowie faserverstärkte Rohre aus PE, PP, etc. Hierbei sind die spezifischen Anforderungen der jeweiligen Produktnormen zu berücksichtigen.

*Durch die Vernetzung ist PE-X kein thermoplastischer Werkstoff mehr. Er ist nicht mehr schmelzbar. Er verbindet die guten Eigenschaften eines Thermoplasts mit denen eines Elastomers. Deshalb wird dieser Werkstoff auch als thermoelastisch bezeichnet.
Tabelle 1: Anwendungsbereiche / Rohrwerkstoffe

Die zugehörige Vergleichsspannung σV oder Umfangsspannung σU ergibt sich aus dem Innendruck p, dem mittleren Rohrdurchmesser dm und der Wanddicke e nach der sogenannten Kesselformel. Die Vergleichsspannung entspricht nahezu der Spannung in Umfangsrichtung an der Rohrinnenfläche σU.
Die Spannung in Umfangsrichtung ist doppelt so groß wie die Spannung in Axialrichtung σ.
Die genaue Kenntnis der für den jeweiligen Rohrwerkstoff zulässigen Spannung bildet unter Verwendung der nachfolgenden Formel die Grundlage für die Rohrdimensionierung bei gegebenem Innendruck. Die zum Bruch führende Spannung ist werkstoffspezifisch und hängt bei Kunststoffen von der Beanspruchungsdauer sowie der Temperatur (und dem jeweiligen Medium, hier Wasser) ab.

Formel:

Wert Einheit Bezeichnung
σV = σU N/mm2 = MPa* Vergleichsspannung σV = Umfangsspannung σU
σZul. N/mm2 = MPa* Zulässige Berechnungsspannung = Vergleichsspannung/ Sicherheitsfaktor
dm mm Mittlerer Rohrdurchmesser dm = (dn + di)/2 = dn -e
dn mm Außendurchmesser Rohr
p N/mm2 Zulässiger Betriebsüberdruck = F/a (Kraft/ Fläche)
e mm Wanddicke Rohr

 * Umrechnung von bar (p) in N/mm2 (σU) : 1 bar = 0,1 MPa = 1/10 N/mm2
Tabelle 2: Abkürzungen

Der Zeitstand-Innendruckversuch umfasst nicht das komplette in der Praxis vorliegende Beanspruchungsprofil (Beanspruchungskollektiv). Es ist vielmehr eine Vereinfachung auf die in der Praxis auftretenden Haupt-Beanspruchungsparameter.

Das betrachtete Belastungsprofil beim Zeitstand-Innendruckversuch umfasst:

  • Innendruck statisch
  • möglich verarbeitungsinduzierte Eigenschaften (Eigenspannungen)
  • Medium (Wasser)
  • Temperatur (Medium-Temperatur und Außen-Temperatur)

    Dieses Verhalten wird in langandauernden Prüfungen nach DIN EN ISO 1167-1, ISO 17456 und DIN EN ISO 9080 untersucht (siehe Tabelle 3).

    DIN EN ISO 1167-1 Rohre, Formstücke und Bauteilkombinationen aus thermoplastischen Kunststoffen für den Transport von Flüssigkeiten - Bestimmung der Widerstandsfähigkeit gegen inneren Überdruck - Teil 1: Allgemeines Prüfverfahren
    DIN EN 12162 Thermoplastische Werkstoffe für Rohre und Formstücke für Anwendungen unter Druck - Klassifizierung, Werkstoff-kennzeichnung und Gesamtbetriebs-(berechnungs-) Koeffizient
    DIN EN ISO 9080 Kunststoff-Rohrleitungs- und Schutzrohrsysteme - Bestimmung des Zeitstand-Innendruckverhaltens von thermoplastischen Rohrwerkstoffen durch Extrapolation
    ISO 17456 Kunststoff-Rohrleitungssysteme - Mehrschichtverbundrohre - Bestimmung des Zeitstand-Innendruckverhaltens
    Produktnormen wie
    DIN 8075, DIN 8078, ISO 22391, etc.
    • DIN 8075 (PE80/PE100)
    • DIN 8078 (PP-H, PP-R)
    • ISO 22391 (PE-RT)


    Tabelle 3: Normenübersicht

    Die Prüfungen werden an unter Innendruck stehenden Rohrabschnitten (siehe Bild 1) durchgeführt, um praxisnah den Einfluss der mehrachsigen Dehnung mit zu erfassen.

     

    Bild 1: Eintauchen eines unter Innendruck zu prüfenden Rohrabschnittes in ein Wasserbad
    Quelle: SKZ, Würzburg

    Zunächst wird das zu prüfende Rohr exakt vermessen und dann an einem Ende fest verschlossen und mit dem anderen Ende an einen Konstant-Druckerzeuger angeschlossen. Anschließend werden die Kunststoffrohrabschnitte mit normgerechter Rohrlänge (Probekörper) mit Wasser gefüllt.

    Der so präparierte Probekörper wird dann in ein temperiertes Wasserbad oder in einen Warmluftofen eingebracht. Bei den Versuchen liegen Spannung und Druck so lange konstant an, bis der Probekörper bricht (siehe Bild 2).

    Zur Ermittlung eines Zeitstandinnendruck-Diagrammes ist die Aufnahme einer Vielzahl von Bruchpunkten über einen langen Zeitraum erforderlich. Nach DIN EN ISO 9080 sind für jede gewählte Prüftemperatur (i. a. R. 20°C, ... 80°C) mindestens 30 Bruchpunkte bei unterschiedlicher Umfangsspannung und Zeit über den Testzeitraum von mindestens 9000 Stunden (375 Tage) und länger nötig. Die Umfangsspannung in der Rohrwandung ergibt sich aus der Kesselformel, siehe oben. Aus den rechnerisch ermittelten Spannungswerten erhalten wir das sogenannte Zeitstand-Diagramm (siehe Bild 2).

    Die Ergebnisse aus diesen Versuchen werden im doppelt logarithmischen Maßstab – Prüfspannung (Vergleichsspannung σV ) über der Standzeit (t in Stunden) – aufgetragen.
    Bei hinreichend langen Prüfzeiträumen (bis zu vielen Jahren) zeigt die typische Rohrkurve in dieser Auftragung drei verschiedene Bereiche (siehe Bild 2 und Tabelle 5).
    Beginnend bei kurzen Standzeiten beobachtet man beispielsweise (werkstoffabhängig ) einen flachen, geraden Ast, an den sich ein gerader steiler Ast anschließt. Nach sehr langen Standzeiten schließt sich ein senkrechter, spannungsunabhängiger Kurvenast an. Den drei Kurvenbereichen liegen unterschiedliche Versagensmechanismen zugrunde (siehe Bild 2 und Tabelle 5).

    Bereich 1: Im flachen Ast beobachtet man sogenannte Duktilbrüche bzw. Zähbrüche. Dieser Ast markiert also die Grenzspannung des duktilen Versagens analog zur Streckspannung aus dem Kurzzeit-Zugversuch. Beide werden im wesentlichen durch die Werkstoffdichte bestimmt.
    Bereich 2: Für die Langzeiteigenschaften eines Rohrwerkstoffes (werkstoffabhängig, z.B. bei Kunststoff PE-X i. d. R. nicht vorhanden) ist die Lage der steilen Kurve entscheidend. Sie wird bestimmt durch den Widerstand, den das Material einer langsamen Rissfortpflanzung entgegensetzt. Diese Werkstoffeigenschaft wird auch als Spannungsrisswiderstand bezeichnet und bestimmt die Lebensdauer des Rohrwerkstoffes. Der Knickpunkt, also der Übergang von der flachen Kurve zur steilen Kurve, kann, wenn überhaupt, nur bei hohen Temperaturen und sehr langen Standzeiten beobachtet werden.

    Die praktikable Prüfung des Zeitstandverhaltens unter Innendruck erfolgt bei Polyethylen aufgrund von drei exemplarischen gemäß DIN 8075, Tabelle 4 definierten Kontrollpunkten (siehe Tabelle 4).

      Temperatur
    20°C
    Temperatur
    80°C
    Temperatur
    80°C
    Klasse
    Umfangsspannung

    10 MPa

    12,4 MPa

    4,6 MPa

    5,5 MPa

    4,0 MPa

    5,0 MPa

    PE 80

    PE 100

    Standzeit = 100 h = 165 h = 1.000 h  


    Tabelle 4: Kontrollpunkte für Polyethylen nach DIN 8075

    Bereich 3: Im dritten senkrechten Kurvenast beobachtet man in der Praxis ebenfalls spröde Brüche. Sie treten auf als Folge des thermooxidativen Abbaus des Werkstoffes bzw. aufgrund der Alterung. Da diese Wärmealterung praktisch spannungsunabhängig ist, lässt sie sich in Zeitstand-Diagrammen auch als senkrechte Gerade darstellen. Der Begriff thermooxidative Alterung umfasst Polymerkettenabbau des Werkstoffes durch Wärmeenergie in Anwesenheit von Sauerstoff.

    Zwischen der Umfangsspannung σV (N/mm2) und der Standzeit t (h) ergibt sich ein Zusammenhang, der im logarithmischen Maßstab durch Geraden der drei Kurven gekennzeichnet ist (siehe Bild 2). Ebenso ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht zwischen der Standzeit und der Temperatur: In einem sogenannten Arrhenius-Diagramm werden die Kehrwerte der Messtemperatur (in Kelvin) gegen den Logarithmus der Standzeit für jeweils eine bestimmte Vergleichsspannung bzw. Umfangsspannung aufgetragen (siehe Bild 3).
    Man erhält gleichfalls Geraden und kann dann unter Nutzung dieses Zusammenhangs aufgrund von Messungen bei erhöhten Temperaturen (40, 60, 80°C) eine Extrapolation der Zeitstandfestigkeit auf längere Zeiten bei 20°C durchführen.

    Bild 2: Zeitstand-Diagramm - Ermittlung der Rohrkurven nach dem 3-Stufen-Modell

    Bereich Bruchart Bruchursache Bilder
    Bereich 1:
    Duktiles Versagen
    Duktilbruch,
    Zähbruch
    „Schnabelbruch"
    Spannung in der Rohrwandung überschreitet die Streckspannung des Werkstoffes.
    Bereich 2:
    Quasi-sprödes Versagen
    Sprödbruch Entstehung von Spannungsrissen und langsames Risswachstum
    Bereich 3:
    Thermooxidativer Abbau
    Sprödbruch Versprödung des Werkstoffes, Entstehung einer Vielzahl von kleinen Rissen über den gesamten Rohrumfang


    Tabelle 5: Beschreibung der unterschiedlichen Brucharten
    Quelle: SKZ, Würzburg

    Bild 3: Arrhenius-Diagramm

    Für kommunale Ver- und Entsorgungsrohrleitungen wird von den Gemeinden und Städten in der Praxis eine Betriebszeit von mindestens 50 Jahren gefordert, da die jährliche Amortisation solcher Anlagen 2 % beträgt. Naturgemäß liegen aber noch keine 50 Jahre Werkstofferfahrungen vor, da es z. B. PE100 noch nicht so lange gibt.

    Die oben dargestellten gesicherten Gesetzmäßigkeiten rechtfertigen es jedoch in wissenschaftlich fundierter Weise, aus zeitraffenden Messungen und entsprechender Extrapolation bei hohen Temperaturen auf die mit Sicherheit zu erwartende Mindestlebensdauer bei 20°C zu schließen.

    Um den unterschiedlichen Leistungsvermögen der verschiedenen Kunststoffe im Zeitstand Rechnung zu tragen, wurde das Klassifizierungssystem nach DIN EN ISO 12162 geschaffen.
    Der Grund hierfür waren die diversen Materialeigenschaften der Kunststofftypen bei Polyethylen wie z. B. PE 80, PE 100 etc. Das System ist grundsätzlich für alle thermoplastischen Werkstoffe vorgesehen (siehe Tabelle 1).

    Bei der Ermittlung der Zeitstandfestigkeit werden die Bruchpunkte mit gewisser Streuung im Diagramm liegen (siehe Bild 4). Daraus ergibt sich die Aufgabe: Wie lassen sich die Punkte zu einer Kurve verbinden?" Diese Aufgabe wird mit mathematischen Hilfsmitteln, unter Berücksichtigung der statistischen Verteilung der Messwerte gelöst.

    Ausgangspunkt für die Klassifizierung bildet die Messung von Zeitstandinnendruckkurven und ihre Auswertung nach der SEM Methode (Standard-Extrapolations-Methode) gemäß DIN EN ISO 9080. Die Auswertung ergibt sich für die Umfangsspannung bei 20°C Betriebstemperatur, Medium Wasser und 50 Jahren Beanspruchungsdauer:

    • den Erwartungswert als mittlere Festigkeit (Hydrostatische Langzeitfestigkeit in MPa) σLTHS (Long Term Hydrostatic Strength), siehe auch Mittelmesswert- Kurve (siehe Bild 4).
    • die 97,5 % untere Vertrauensgrenze σLCL (Lower Confidence Limit) als unterer Vertrauenswert der vorangegangenen hydrostatischen Festigkeit in MPa, siehe auch untere -Messwert-Kurve (siehe Bild 4).

      Dieser LCL-Wert wird nach der Renard-10-Zahlenreihe kategorisiert. Diese Normzahlenreihe (ISO 3) ist eine Unterteilung einer Dekade in 10 bzw. 20 gleiche Teile in einem logarithmischen Maßstab.

      Dabei ergibt sich die gerundete Zahlenreihe:
      1 I 1,25 I 1,6 I 2 I 3,2 I 4 I 5 I 6,3 I 8 I 10 I 11,2 I 12,5 I 14 I 16 I usw.
      Liegt der errechnete σLPL-Wert beispielsweise bei 11,0 MPa so wird dann auf die nächst niedrigere Renard-Zahl 10 abgestuft. Das Ergebnis ist die erforderliche Mindestfestigkeit MRS (Minimum Required Strength) von 10 MPa für PE 100. Die Klassifizierungszahl für einen thermoplastischen Werkstoff beträgt das 10fache des MRS-Wertes (MPa) (siehe Tabelle 3).

      Kunststoff MRS-Wert in MPa Klassifizierungszahl
      PE 80 8 MPa 80
      PE 100 10 MPa 100
      PVC-U 250 25 MPa 250


      Tabelle 6: MRS-Klassifizierung

      Bild 4: Vielzahl der Messpunkte - Zeitstand-Innendruckfestigkeit eines Kunststoffes (20°C, Wasser, 50 Jahre), Mittel-Messwert-Kurve LTHS und Untere Messwert-Kurve LPL
      Quelle: SKZ, Würzburg

      Bild 5: Zeitstand-Innendruckfestigkeit von PE 100 (20°C, Wasser, 50 Jahre)
      Quelle: Frank GmbH, Mörfelden

      Bild 6: Zeitstand-Innendruckfestigkeit von PE-Xa und PE 100 (20°C, Wasser, 50 Jahre) im Vergleich

      Bild 7: Zeitstand-Innendruckfestigkeit von PP-H (20°C, Wasser, 50 Jahre)

      Bild 8: Zeitstand-Innendruckfestigkeit von PP-R (20°C, Wasser, 50 Jahre)