Retardation bzw. Kriechen

An einem Werkstoff, der unter einer konstanten Spannung σ (= Kraft/ Fläche) steht, ist eine fortschreitende Deformation zu erkennen. Kriechen (auch Retardation) bezeichnet bei Werkstoffen die zeit- und temperaturabhängige, plastische Verformung unter Last (Spannung) (siehe Grafik 1). Eine Kennzahl für das Kriechen ist der Kriechmodul. Da Kunststoffe aus großen (im Fall von Thermoplasten und Elastomeren verknäulten) Molekülketten bestehen, gleiten bzw. entknäueln sich diese unter äußerer Belastung, woraus eine Dehnung resultiert. Je nach Herstellung, Grundpolymer, Füllstoff und Füllgrad des Kunststoffes kann die Dehnung mehrere Prozent betragen.

 Belastungen der Kunststoffrohrsysteme nach der Verlegung

Grafik 1: Belastungen der Kunststoffrohrsysteme nach der Verlegung (Retardation bzw. Kriechen)
Quelle: Lesch Consult, Würzburg


Langzeitige Lasteinwirkung

Bei längerer Krafteinwirkung kommt es beim Kunststoff - im Gegensatz z. B. zum Stahl - zu einer fortschreitenden Verformung des Werkstoffes –Kriechen oder Retardation. Bei der Berechnung von Bauteilen (wie z. B. Kunststoffrohren) kann man jedoch die gleichen Regeln der Festigkeitsberechnungen wie bei Metallen anwenden. Man setzt lediglich anstelle der bei Metallen üblichen Kurzzeitwerte von Zugfestigkeit und E-Modul die entsprechenden Langzeitwerte der entsprechenden Thermoplaste für Zeitstandfestigkeit und Kriechmodul ein.

Die traditionellen Werkstoffe wie Steinzeug, Duktiler Guss, haben eine andere Struktur, hier sind alle Moleküle untereinander verknüpft, die Materialelastizität entsteht nur aus der Dehnbarkeit der Verbindungen zwischen den einzelnen Molekülen. Wird sie überschritten, entstehen Materialschädigungen. Bei Beton kommt es ebenfalls zum Kriechen. Kunststoff kann sich diese Eigenschaft zunutze machen. Durch chemische Zusatzstoffe oder Behandlung des Rohres mit Strahlungsvernetzung kann auch bei Kunststoffen eine Verknüpfung der Molekülketten erreicht werden. Damit steigt die Festigkeit und die Temperaturbeständigkeit des Werkstoffes, seine Dehnbarkeit nimmt deutlich ab. Das wird vor allem für heißwasserbeständige PE-Rohre (z. B. PE-X ) verwendet.

Retardation Lasteinwirkung

Bild 1: Stahl: Keine weitere Verformung bei längerer Einwirkung der Last

Bild 2: Kunststoff: Fortschreitende Verformung bei längerer Einwirkung der Last: Kriechen

 

Eine wichtige Kennzahl für das Kriechen ist durch den Kriechmodul definiert. Der Kriechmodul ist ein Maß für die momentane Werkstoffsteifigkeit. Die Viskoelastizität der Kunststoffe äußert sich unter statischer Belastung durch eine stetige Abnahme der Werkstoffsteifigkeit. Der Kriechmodul ist für zeitabhängige Belastungen definiert als das Verhältnis zwischen Spannung und der zeitabhängigen sich einstellenden Verformung, siehe Kriechmodul Ec für PE 100 (siehe Grafik 2). Die Kriechdehnung ist abhängig von der Temperatur, Zeit und Spannung.

Retardation Kriechmodulformel

Retardation Kriechmodul

Grafik 2: Kriechmodul Ec für PE 100 in Abhängigkeit von der Zeit und Temperatur (Festigkeitswerte zur Dimensionierung von thermoplastischen Werkstoffen)

Die beschriebenen Kriechvorgänge sind zeitabhängig. Je nach Anwendungsbereich ergeben sich für die Rohrsysteme daraus zwei Gesetzmäßigkeiten:

  1. Im Druckrohrmaterial treten wegen des dauerhaft anstehenden Mediendruckes (Spannung) über die gesamte Betriebszeit Kriechvorgänge auf, der Rohrdurchmesser nimmt geringfügig zu. Bei richtiger Auslegung wird das Material dabei nicht geschädigt, das gilt auch für die Muffenverbindungen (Materialorientierung). Kanalrohre liegen nach Abschluss der Bodensetzungen praktisch lastfrei im Boden (Abbau der Spannung durch Relaxation).
  2. Die in der Rohrwand, durch die aufgetretene Verformung entstandenen Spannungen bauen sich im Laufe der Zeit weitgehend ab (Spannungsrelaxation).

Bei einer vorgegebenen Dehnung Ɛ baut sich die Spannung (Relaxation) ab und bei einer bestimmten Spannung nimmt die Dehnung mit der Zeit zu (Kriechen).

Grafik 3: Spannungs-/Dehnungs-Diagramm unterschiedlicher Rohrwerkstoffe
Quelle: Lesch Consult, Würzburg